Oct 14, 2014

WARUM HEGEL?

Nach dem Spanischen Bürgerkrieg hält der Hegelianismus in den katalanischen Universitäten Einzug als eine ideologische Komponente, die im vollen Umfang aufgenommen ist. Hegel wird als bürgerlicher, jedoch nicht individualistischer Denker gesehen; als Erneuerer, der jedoch dem Primat der ökonomischen Logik widerspricht; als Verfechter der Autorität des Staates, der aber zugleich dessen Rationalisierung einfordert und die spezifische Dynamik der unterschiedlichen sozialen Welten anerkennt; als universell ausgerichteter Denker, der jedoch der historischen und nationalen Rolle der unterschiedlichen Völker große Bedeutung zumisst; als Befürworter einer strikten Ordnung und Gesetzmäßigkeit der Politik, der aber die Notwendigkeit des Konkurrenzkampfs und sogar des politischen Konflikts anerkennt.
 
Trotz alledem muss der Hegelianismus eine langanhaltende Strömung aus dem späten 19. Jahrhundert überwinden, die ihm völlig zuwiderläuft. Während es in Kastilien in der zweiten Jahrhunderthälfte eine bemerkenswerte krausistische Bewegung gab (nach dem Philosophen F.C.E. Krause), herrscht in Katalonien ein Standpunkt vor, der dem spekulativen deutschen Idealismus entgegengesetzt ist. Besonders Hegel wird kritisiert – eine Ausnahme stellt hier lediglich der spätere Präsident der kurzlebigen Ersten Spanischen Republik dar, Francesc Pi i Margall. Dieser eignet sich Hegel an, um seine eigene Geschichtsphilosophie zu formulieren, die eine föderalistische politische Revolution verspricht als Garantie für ein friedliches Gleichgewicht der Individuen und Völker. Doch der mehrheitliche Spiritualismus christlicher Prägung misstraut Hegels systembildendem Rationalismus und hohen spekulativen Ansprüchen zutiefst und wirft ihm nicht nur den Verlust jeglichen Wirklichkeitsbezugs vor, sondern auch Pantheismus und sogar Nihilismus (insofern, als sein Rationalismus letztlich in den „Tod Gottes“ mündet). Auf dieser Linie argumentieren etwa Jaume Balmes oder Manuel Milà i Fontanals, der gleichwohl wichtige Aspekte der Hegelschen Ästhetik zusammentrug (wie später auch auf ähnliche Weise Francesc Mirabent).


 
Als der christliche Spiritualismus in Katalonien sich zu modernisieren versucht, kommt er Hegel nicht näher, sondern wählt eine Vielfalt von Optionen, die von der tiefsten poetisch-ästhetischen Romantik über den empirischen Psychologismus oder die Philosophie des Common Sense bis zum Positivismus reichen. Diese Tendenz ändert sich während des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts nicht: Der Hegelianismus ist in Katalonien weitgehend abwesend oder wird geringgeschätzt, und das trotz der Gegenwart einiger wichtiger anarchistischer und sozialistischer Keimzellen, die in der Regel eine an Hegel anknüpfende Geschichtsphilosophie vertraten. Aus eben diesem Umfeld kommen auch die beiden Ausnahmen zur allgemeinen Tendenz: Joan Crexells (der die Verbindung zwischen Marxismus und Hegelianismus hervorhebt, aber beide auch aus einer wissenschaftlichen Perspektive kritisiert) und Josep Ferrater i Mora, der Hegel in seinem Buch Quatre visions de la història universal [Vier Sichtweisen der Universalgeschichte] besonders große Aufmerksamkeit widmet.
 
Wie wir sehen, ging die nicht-konfessionelle Tendenz dahin, Hegel unter politischem Vorzeichen zu deuten sowie als Urheber einer weitreichenden Geschichtsphilosophie, die jedoch im Allgemeinen abgelehnt wurde, sei es, weil sie als utopisch und fiktiv erschien, sei es, weil sie auf gefährliche Weise dem christlichen Theodizee- oder Vorsehungsgedanken widersprach. Aus dieser Perspektive ist es offensichtlich, dass es die Hegel-Rezeption während des Franquismus von vornherein nicht leicht haben konnte, doch nun kam dazu, dass sie zunächst auch noch mit der antibürgerlichen Komponente des Franquismus zusammenprallte, die sich auf Beziehungsund Abhängigkeitsverhältnissen aus vorindustrieller Zeit gründete und von einer ultramontanen kirchlichen Hierarchie angeführt wurde. Außerdem war die kulturelle Repression besonders stark, solange das Franco-Regime sich bezüglich der sozialen Kontrolle unsicher fühlte. Von Letzterem zeugt deutlich die Weigerung, am Zweiten Weltkrieg teilzunehmen, und das trotz der offensichtlichen Sympathien für das faschistische Lager und des starken diesbezüglichen Drucks von manchen Seiten.
 
Allerdings ändert sich das, als das Franco-Regime mit der Anerkennung durch die USA nach dem Zweiten Weltkrieg, der bald die der meisten anderen Staaten folgte, seinen Fortbestand gesichert sah. Nun musste die Franco-Diktatur ein Mindestmaß an Modernisierung vornehmen und die kulturelle Repression etwas lockern – im Zuge dessen erscheint Hegels Lehre vom politischen, ideologischen und philosophischen Gleichgewicht annehmbarer. Aus dieser Perspektive muss man die politischen Bedingungen verstehen, welche die überraschend breite Rezeption des Hegelianismus nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichen.
 
Was die franquistische Soziologie und ihr Umfeld an Hegel schätzen, sind folgende Aspekte: Ein starkes Denken von großer spekulativer Reichweite und hohertheologischer Interpretationskraft, das den Aufbau einer Geschichtsphilosophie begünstigt, innerhalb derer die Großmacht-Perspektive möglich ist, die Spanien zu jenem Zeitpunkt vermisst. Auch erlaubt er die Legitimierung jenes Aspekts des politischen Franco- Projekts, der alles dem Staat anvertraut als eherner Führung einer Nation, die ein unauflösbarer nationaler Geist eint. Außerdem bietet die Durchschlagskraft von Hegels spekulativer Dialektik eine Alternative, um andere, stärker werdende Strömungen zu übertreffen und abzuwerten: die „proletarisch“-marxistischen sowie die „bürgerlich“-utilitaristischen Tendenzen der Verfechter der Common-Sense-Philosophie (die in Katalonien traditionell stark vertreten sind) und der Anhänger eines positivistisch-technokratischen Denkens.
 
Bei allem tiefen Misstrauen, das Hegel beim Franco-Regime hervorruft, verkennt es solche ideologischen Vorteile nicht. Doch darüber hinaus gibt es zwei besonders wichtige Faktoren,welche die Duldung und fallweise sogar Förderung des Hegelianismus erleichtern: Erstens entgeht damals niemandem, dass Hegel besonders gut dazu geeignet ist, das Wiederaufkeimen der marxistischen Tradition zu ersetzen und zu unterbinden, denn man fürchtet ihr erneutes Aufleben, da sie im Europa der Nachkriegszeit sehr stark war. Aber es geht noch weiter: man verzichtet auch keineswegs darauf, natürlich leise und gewissermaßen als Notlösung, den Hegelianismus zu verwenden, um dem Marxismus ein Gegengewicht zu bieten, um mit ihm in Dialog zu treten und,wenn nötig, daraus modernisierende Elemente zu übernehmen – ohne sich ihm dabei je unterzuordnen, wohlgemerkt. Zweitens, und das ist sehr wichtig, vollzieht sich die Hegel-Rezeption aus einer eindeutig geistigen, also weder materialistischen noch atheistischen Perspektive heraus, die mit dem Katholizismus vereinbar ist – und das ist ein unverzichtbarer Bestandteil im spanischen Franco-Regime. Es ist bezeichnend, dass unter den ersten Katalanen, die für Hegel Interesse entwickelten, die Jesuiten stark vertreten sind, die stets eine kulturell modernisierende Rolle innehatten und gleichzeitig einem Abweichen ins materialistische oder atheistische Lager entgegensteuerten.
 
 
So ist zum Beispiel Eusebi Colomer, der Hegel in seinem umfassenden Werk zur Philosophie von Kant bis Heidegger eine Hauptrolle zuweist, Mitglied des Jesuitenordens. Auch Ramon Valls (1928-2011: The agonist of 'we'), der katalanische und spanische Hegelianer schlechthin, ist ein ehemaliger Jesuit; mehr als eine Generation faszinierte er mit seiner Darstellung der Phänomenologie des Geistes als dialektischer Entwicklung vom einzelnen, isolierten oder sich abkapselnden Ich zu einem Wir, in welchem sich die notwendige Anerkennung und Vergebung vollziehen. Nicht von ungefähr setzt Valls auf eine starke und unzweideutige Staatlichkeit und vertieft – mit katalanischeren Vorzeichen – die alte Tradition des spanischen Krausismus; seine Hinwendung zu einem modernisierenden Liberalismus sehen wir in seinen späteren Lesarten des Arbeit-Begriffs, der Denkfigur von Herr und Knecht und der historischen Entwicklung der Dialektik.
 
Tief verwurzelt im christlichen Glauben ist auch José María Valverde, der in seiner Jugend die radikalen Falange-Positionen bewunderte und sich über Eugeni d’Ors – damals bereits dem Franco-Regime nahestehend– weiterentwickelte bis hin zur ethischen Gegenposition, die ihn einen christlich geprägten, mit der Theologie der Befreiung verbundenen Marxismus annehmen ließ. Sein Hegel’scher Spiritualismus und sein existentiell-christliches Verständnis der Hegel’schen Dialektik sind Schlüsselaspekte, die ihn von ähnlichen Entwicklungen, wie etwa der von Manuel Sacristán unterscheiden. In jedem Fall sieht man hier die erwähnte Bedeutung Hegels für eine einflussreiche spirituellere und existentiellere Abwandlung des Marxismus (die auch bei Alfons Comín festzustellen ist). Dagegen werden bezeichnenderweise die kritischen Stimmen unterdrückt, die gegen den „Einfluss Hegels“ laut werden, angefangen beim Autor eines gleichnamigen Artikels von 1931, dem marxistischen Philosophen und Pädagogen Rodolf Llorens i Jordana, bis hin zu dem Buch Sodoma, a l’alba de la filosofia del dret [Sodom, der Anbruch der Rechtsphilosophie] (1984) des radikalen Kritikers jeder Art von „Stoßgebet“ und mittlerweile emeritierten Professors für politische Philosophie an der Universität Paris I, Lluís Sala-Molins.
 
Mit der politischen Öffnung des Franco-Regimes und der Konsolidierung der Verbindung nach Europa wird Hegel immer öfter im deutschen Originalwortlaut gelesen; doch bis zum Ende der 80er Jahre stehen für katalanische Studenten ohne Deutschkenntnisse nur spanische Übersetzungen zur Verfügung (zum Beispiel diejenige des republikanischen Exil-Philosophen Wenceslao Roces). 1985 beginnt die Übersetzung Hegels ins Katalanische mit der Phänomenologie des Geistes (übersetzt von Joan Leita und herausgegeben von Valls); 1998 erscheint Die Vernunft in der Geschichte (übersetzt und herausgegeben von Gabriel Amengual) und 2001 Vorlesungen über die Ästhetik (übersetzt und herausgegeben von Gerard Vilar). Einhergehend mit dem Übergang zur Demokratie erscheinen die ersten auf Katalanisch verfassten Dissertationen (A. Vicens, G. Mayos, Ll. Alegret, I. Boada) und auch die ersten katalanischsprachigen Buchpublikationen über Hegel (G. Mayos, Entre lògica i empíria [Zwischen Logik und Empirie]).
 
Mit dem Zusammenbruch der UdSSR und dem Rückgang des Marxismus erneuert sich die hegelianische Landschaft Kataloniens, und zwar stets in Beziehung zum Einfluss Ramon Valls’. Víctor Gómez Pin tritt mit ihm in Dialog, dagegen prallt Eugenio Trías frontal mit ihm zusammen, als er in seiner Doktorarbeit unter dem übergeordneten Thema der Leidenschaft die Gründe dafür untersucht, dass der junge Hegel die Liebe nicht mehr als einen Ausdruck des Absoluten ansieht. Antoni Marí bringt Hegel in die Nähe der Romantik, Trías entscheidet sich in seiner späteren „Philosophie der Grenze“ für ein sehr Hegel’sches System und Gonçal Mayos übernimmt vom Hegelianismus die Einbeziehung der makrohistorischen und makrophilosophischen Perspektiven.
 
Heute zeigt sich der Einfluss Hegels innerhalb der Philosophie und der Universitäten in Katalonien weniger durch strenge Befolgung seiner Lehre als vielmehr dadurch, dass sein Denken tief in zahlreiche andere Fragestellungen eindringt. So ist Hegels Spur sehr deutlich bei vielen Wissenschaftlern erkennbar, die oft auch Spezialisten auf anderen Gebieten sind: G. Amengual (Philosophische Anthropologie), G. Vilar (Habermas),V. Gómez Pin (Lacan, Aristoteles), A. Marí (Romantik), E. Trías (Nietzsche), S. Turró (Fichte), O. Piulats (Ökologie), A. Vicens (Lacan), A. Leyte und F. Pereña (Schelling), G. Mayos (Herder, Makrophilosophie), F. M. Marzoa und R. G. Cuartango (Heidegger), R. Gabás und J. Zimmer (Ästhetik), M. Udina (Bloch), P. Ribas (Spanische Philosophie), E. Barjau (Hölderlin), I. Boada usw. Wie wir sehen können, ist Hegels Wirkung – wenngleich die politische und philosophische Konstellation, die ihn zum vielleicht einflussreichsten Denker machte, bereits vergangen ist – auf die katalanische Philosophie sehr tief; ihr Fortbestehen scheint angesichts ihrer vielfältigen Verzweigungen gewährleistet.
 
(G. Mayos „WARUM HEGEL? Politik der Hegel-Rezeption inKatalonien“ a Carrers de frontera. Passatges de la cultura alemanya a la cultura catalana. Vol. I Arnau Pons i Simona Skrabec (eds.), Barcelona: Institut Ramon Llull, 2007, pp. 424-427. Aus dem Katalanischen von Axel Sanjosé)
 

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