Nach dem
Spanischen Bürgerkrieg hält der Hegelianismus in den katalanischen
Universitäten Einzug als eine ideologische Komponente, die im vollen Umfang aufgenommen
ist. Hegel wird als bürgerlicher, jedoch nicht individualistischer Denker
gesehen; als Erneuerer, der jedoch dem Primat der ökonomischen Logik
widerspricht; als Verfechter der Autorität des Staates, der aber zugleich
dessen Rationalisierung einfordert und die spezifische Dynamik der unterschiedlichen
sozialen Welten anerkennt; als universell ausgerichteter Denker, der jedoch der
historischen und nationalen Rolle der unterschiedlichen Völker große Bedeutung
zumisst; als Befürworter einer strikten Ordnung und Gesetzmäßigkeit der
Politik, der aber die Notwendigkeit des Konkurrenzkampfs und sogar des
politischen Konflikts anerkennt.
Trotz alledem
muss der Hegelianismus eine langanhaltende Strömung aus dem späten 19.
Jahrhundert überwinden, die ihm völlig zuwiderläuft. Während es in Kastilien in
der zweiten Jahrhunderthälfte eine bemerkenswerte krausistische Bewegung gab
(nach dem Philosophen F.C.E. Krause), herrscht in Katalonien ein Standpunkt
vor, der dem spekulativen deutschen Idealismus entgegengesetzt ist. Besonders Hegel
wird kritisiert – eine Ausnahme stellt hier lediglich der spätere Präsident der
kurzlebigen Ersten Spanischen Republik dar, Francesc Pi i Margall. Dieser
eignet sich Hegel an, um seine eigene Geschichtsphilosophie zu formulieren, die
eine föderalistische politische Revolution verspricht als Garantie für ein
friedliches Gleichgewicht der Individuen und Völker. Doch der mehrheitliche Spiritualismus
christlicher Prägung misstraut Hegels systembildendem Rationalismus und hohen spekulativen
Ansprüchen zutiefst und wirft ihm nicht nur den Verlust jeglichen
Wirklichkeitsbezugs vor, sondern auch Pantheismus und sogar Nihilismus (insofern,
als sein Rationalismus letztlich in den „Tod Gottes“ mündet). Auf dieser Linie
argumentieren etwa Jaume Balmes oder Manuel Milà i Fontanals, der gleichwohl
wichtige Aspekte der Hegelschen Ästhetik zusammentrug (wie später auch auf
ähnliche Weise Francesc Mirabent).
Als der
christliche Spiritualismus in Katalonien sich zu modernisieren versucht, kommt
er Hegel nicht näher, sondern wählt eine Vielfalt von Optionen, die von der tiefsten
poetisch-ästhetischen Romantik über den empirischen Psychologismus oder die
Philosophie des Common Sense bis zum Positivismus reichen. Diese Tendenz ändert
sich während des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts nicht: Der Hegelianismus
ist in Katalonien weitgehend abwesend oder wird geringgeschätzt, und das trotz
der Gegenwart einiger wichtiger anarchistischer und sozialistischer Keimzellen,
die in der Regel eine an Hegel anknüpfende Geschichtsphilosophie vertraten. Aus
eben diesem Umfeld kommen auch die beiden Ausnahmen zur allgemeinen Tendenz: Joan
Crexells (der die Verbindung zwischen Marxismus und Hegelianismus hervorhebt,
aber beide auch aus einer wissenschaftlichen Perspektive kritisiert) und Josep
Ferrater i Mora, der Hegel in seinem Buch Quatre visions de la història
universal [Vier Sichtweisen der Universalgeschichte] besonders große
Aufmerksamkeit widmet.
Wie wir sehen,
ging die nicht-konfessionelle Tendenz dahin, Hegel unter politischem Vorzeichen
zu deuten sowie als Urheber einer weitreichenden Geschichtsphilosophie, die
jedoch im Allgemeinen abgelehnt wurde, sei es, weil sie als utopisch und fiktiv
erschien, sei es, weil sie auf gefährliche Weise dem christlichen Theodizee-
oder Vorsehungsgedanken widersprach. Aus dieser Perspektive ist es offensichtlich,
dass es die Hegel-Rezeption während des Franquismus von vornherein nicht leicht
haben konnte, doch nun kam dazu, dass sie zunächst auch noch mit der
antibürgerlichen Komponente des Franquismus zusammenprallte, die sich auf
Beziehungsund Abhängigkeitsverhältnissen aus vorindustrieller Zeit gründete und
von einer ultramontanen kirchlichen Hierarchie angeführt wurde. Außerdem war die
kulturelle Repression besonders stark, solange das Franco-Regime sich bezüglich
der sozialen Kontrolle unsicher fühlte. Von Letzterem zeugt deutlich die
Weigerung, am Zweiten Weltkrieg teilzunehmen, und das trotz der offensichtlichen
Sympathien für das faschistische Lager und des starken diesbezüglichen Drucks
von manchen Seiten.
Allerdings ändert
sich das, als das Franco-Regime mit der Anerkennung durch die USA nach dem Zweiten
Weltkrieg, der bald die der meisten anderen Staaten folgte, seinen Fortbestand
gesichert sah. Nun musste die Franco-Diktatur ein Mindestmaß an Modernisierung
vornehmen und die kulturelle Repression etwas lockern – im Zuge dessen erscheint
Hegels Lehre vom politischen, ideologischen und philosophischen Gleichgewicht annehmbarer.
Aus dieser Perspektive muss man die politischen Bedingungen verstehen, welche
die überraschend breite Rezeption des Hegelianismus nach dem Zweiten Weltkrieg
ermöglichen.
Was die
franquistische Soziologie und ihr Umfeld an Hegel schätzen, sind folgende
Aspekte: Ein starkes Denken von großer spekulativer Reichweite und hohertheologischer
Interpretationskraft, das den Aufbau einer Geschichtsphilosophie begünstigt,
innerhalb derer die Großmacht-Perspektive möglich ist, die Spanien zu jenem
Zeitpunkt vermisst. Auch erlaubt er die Legitimierung jenes Aspekts des
politischen Franco- Projekts, der alles dem Staat anvertraut als eherner Führung
einer Nation, die ein unauflösbarer nationaler Geist eint. Außerdem bietet die
Durchschlagskraft von Hegels spekulativer Dialektik eine Alternative, um andere,
stärker werdende Strömungen zu übertreffen und abzuwerten: die
„proletarisch“-marxistischen sowie die „bürgerlich“-utilitaristischen Tendenzen
der Verfechter der Common-Sense-Philosophie (die in Katalonien traditionell
stark vertreten sind) und der Anhänger eines positivistisch-technokratischen
Denkens.
Bei allem tiefen Misstrauen, das Hegel beim Franco-Regime hervorruft,
verkennt es solche ideologischen Vorteile nicht. Doch darüber hinaus gibt es
zwei besonders wichtige Faktoren,welche die Duldung und fallweise sogar
Förderung des Hegelianismus erleichtern: Erstens entgeht damals niemandem, dass
Hegel besonders gut dazu geeignet ist, das Wiederaufkeimen der marxistischen
Tradition zu ersetzen und zu unterbinden, denn man fürchtet ihr erneutes
Aufleben, da sie im Europa der Nachkriegszeit sehr stark war. Aber es geht noch
weiter: man verzichtet auch keineswegs darauf, natürlich leise und
gewissermaßen als Notlösung, den Hegelianismus zu verwenden, um dem Marxismus
ein Gegengewicht zu bieten, um mit ihm in Dialog zu treten und,wenn nötig,
daraus modernisierende Elemente zu übernehmen – ohne sich ihm dabei je
unterzuordnen, wohlgemerkt. Zweitens, und das ist sehr
wichtig, vollzieht sich die Hegel-Rezeption aus einer eindeutig geistigen, also
weder materialistischen noch atheistischen Perspektive heraus, die mit dem
Katholizismus vereinbar ist – und das ist ein unverzichtbarer Bestandteil im
spanischen Franco-Regime. Es ist bezeichnend, dass unter den ersten Katalanen,
die für Hegel Interesse entwickelten, die Jesuiten stark vertreten sind, die
stets eine kulturell modernisierende Rolle innehatten und gleichzeitig einem
Abweichen ins materialistische oder atheistische Lager entgegensteuerten.
So ist zum
Beispiel Eusebi Colomer, der Hegel in seinem umfassenden Werk zur Philosophie
von Kant bis Heidegger eine Hauptrolle zuweist, Mitglied des Jesuitenordens. Auch
Ramon Valls (1928-2011: The agonist of 'we'), der katalanische und spanische Hegelianer schlechthin, ist ein
ehemaliger Jesuit; mehr als eine Generation faszinierte er mit seiner Darstellung
der Phänomenologie des Geistes als dialektischer Entwicklung vom
einzelnen, isolierten oder sich abkapselnden Ich zu einem Wir, in welchem sich
die notwendige Anerkennung und Vergebung vollziehen. Nicht von ungefähr setzt
Valls auf eine starke und unzweideutige Staatlichkeit und vertieft – mit
katalanischeren Vorzeichen – die alte Tradition des spanischen Krausismus;
seine Hinwendung zu einem modernisierenden Liberalismus sehen wir in seinen
späteren Lesarten des Arbeit-Begriffs, der Denkfigur von Herr und Knecht und
der historischen Entwicklung der Dialektik.
Tief verwurzelt
im christlichen Glauben ist auch José María Valverde, der in seiner Jugend die
radikalen Falange-Positionen bewunderte und sich über Eugeni d’Ors –
damals bereits dem Franco-Regime nahestehend– weiterentwickelte bis hin zur
ethischen Gegenposition, die ihn einen christlich geprägten, mit der Theologie
der Befreiung verbundenen Marxismus annehmen ließ. Sein Hegel’scher
Spiritualismus und sein existentiell-christliches Verständnis der Hegel’schen
Dialektik sind Schlüsselaspekte, die ihn von ähnlichen Entwicklungen, wie etwa
der von Manuel Sacristán unterscheiden. In jedem Fall sieht man hier die
erwähnte Bedeutung Hegels für eine einflussreiche spirituellere und
existentiellere Abwandlung des Marxismus (die auch bei Alfons Comín festzustellen
ist). Dagegen werden bezeichnenderweise die kritischen Stimmen unterdrückt, die
gegen den „Einfluss Hegels“ laut werden, angefangen beim Autor eines
gleichnamigen Artikels von 1931, dem marxistischen Philosophen und Pädagogen Rodolf
Llorens i Jordana, bis hin zu dem Buch Sodoma, a l’alba de la filosofia del
dret [Sodom, der Anbruch der Rechtsphilosophie] (1984) des radikalen Kritikers
jeder Art von „Stoßgebet“ und mittlerweile emeritierten Professors für
politische Philosophie an der Universität Paris I, Lluís Sala-Molins.
Mit der
politischen Öffnung des Franco-Regimes und der Konsolidierung der Verbindung
nach Europa wird Hegel immer öfter im deutschen Originalwortlaut gelesen; doch
bis zum Ende der 80er Jahre stehen für katalanische Studenten ohne
Deutschkenntnisse nur spanische Übersetzungen zur Verfügung (zum Beispiel diejenige
des republikanischen Exil-Philosophen Wenceslao Roces). 1985 beginnt die
Übersetzung Hegels ins Katalanische mit der Phänomenologie des Geistes (übersetzt
von Joan Leita und herausgegeben von Valls); 1998 erscheint Die Vernunft in
der Geschichte (übersetzt und herausgegeben von Gabriel Amengual) und 2001 Vorlesungen
über die Ästhetik (übersetzt und herausgegeben von Gerard Vilar).
Einhergehend mit dem Übergang zur Demokratie erscheinen die ersten auf
Katalanisch verfassten Dissertationen (A. Vicens, G. Mayos, Ll. Alegret, I.
Boada) und auch die ersten katalanischsprachigen Buchpublikationen über Hegel
(G. Mayos, Entre lògica i empíria [Zwischen Logik und Empirie]).
Mit dem
Zusammenbruch der UdSSR und dem Rückgang des Marxismus erneuert sich die
hegelianische Landschaft Kataloniens, und zwar stets in Beziehung zum Einfluss
Ramon Valls’. Víctor Gómez Pin tritt mit ihm in Dialog, dagegen prallt Eugenio Trías
frontal mit ihm zusammen, als er in seiner Doktorarbeit unter dem
übergeordneten Thema der Leidenschaft die Gründe dafür untersucht, dass der junge
Hegel die Liebe nicht mehr als einen Ausdruck des Absoluten ansieht. Antoni
Marí bringt Hegel in die Nähe der Romantik, Trías entscheidet sich in seiner späteren
„Philosophie der Grenze“ für ein sehr Hegel’sches System und Gonçal Mayos
übernimmt vom Hegelianismus die Einbeziehung der makrohistorischen und
makrophilosophischen Perspektiven.
Heute zeigt sich
der Einfluss Hegels innerhalb der Philosophie und der Universitäten in
Katalonien weniger durch strenge Befolgung seiner Lehre als vielmehr dadurch,
dass sein Denken tief in zahlreiche andere Fragestellungen eindringt. So ist
Hegels Spur sehr deutlich bei vielen Wissenschaftlern erkennbar, die oft auch
Spezialisten auf anderen Gebieten sind: G. Amengual (Philosophische
Anthropologie), G. Vilar (Habermas),V. Gómez Pin (Lacan, Aristoteles), A. Marí (Romantik),
E. Trías (Nietzsche), S. Turró (Fichte), O. Piulats (Ökologie), A. Vicens
(Lacan), A. Leyte und F. Pereña (Schelling), G. Mayos (Herder,
Makrophilosophie), F. M. Marzoa und R. G. Cuartango (Heidegger), R. Gabás und
J. Zimmer (Ästhetik), M. Udina (Bloch), P. Ribas (Spanische Philosophie), E.
Barjau (Hölderlin), I. Boada usw. Wie wir sehen können, ist Hegels Wirkung –
wenngleich die politische und philosophische Konstellation, die ihn zum
vielleicht einflussreichsten Denker machte, bereits vergangen ist – auf die
katalanische Philosophie sehr tief; ihr Fortbestehen scheint angesichts ihrer
vielfältigen Verzweigungen gewährleistet.
(G. Mayos „WARUM HEGEL? Politik der Hegel-Rezeption inKatalonien“ a Carrers de frontera.
Passatges de la cultura alemanya a la cultura catalana. Vol. I Arnau Pons i
Simona Skrabec (eds.), Barcelona: Institut Ramon Llull, 2007, pp. 424-427. Aus
dem Katalanischen von Axel Sanjosé)
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